"Hier“, sagt Frau Schmidt, „fühle ich mich nicht einsam.“ Denn hier begegnet sie alten Bekannten, hier ist sie zu Besuch in ihrer alten Heimat. Hier, das ist der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin. Und die alte Heimat ist die DDR. Frau Schmidt ist weißhaarig, zierlich, sie hat das größte Stück Leben hinter sich. Sie mag vielleicht Ende 70 oder Anfang 80 sein. Ihr Mann ist gestorben, als es die DDR noch gab. Sie kennt sich hier gut aus. Und ihre blauen Augen sind die eines jungen Mädchens, wenn sie erzählt.
Frau Schmidt zeigt mir das Grab eines dieser alten Bekannten, eine Stele mit kaum lesbarer Inschrift. In einer Ecke der granitfarbenen Grabumrandung ist eine Vogeltränke eingelassen. „Ein Theatermann“, erzählt sie. Es ist Heiner Müller. Sie deutet auf eine Ecke der Grabeinfassung: „Und das ist auch keine Vogeltränke, sondern sein Aschenbecher.“ Gleich daneben liegt Wolf Kaiser, ein Schauspieler der ehemaligen DDR, einer, der in der Schweiz geboren worden ist, in der DDR berühmt wurde. Und der im neuen Deutschland nie ankam. Wolf Kaiser hat sich 1992 das Leben genommen. Seine letzte große Rolle war der Casanova. „Wenn er noch gewartete hätte“, sagt Frau Schmidt energisch, „dann wäre er auch im Westen ein ganz Großer geworden“. Aber er hat nicht gewartet, sondern hat sich lieber umgebracht.
Sie führt mich auch an die Beerdigungsstätte von Rudolf Bahro, ein einfacher Stein, der unter Bodendecker und hinter einem schmiedeiernen Zaun fast verschwindet. „Er war bei der DDR-Führung nicht beliebt und später im Westen dann auch nicht“, erzählt sie. Deshalb sei er nach Mittelamerika gegangen. „Da war er auch irgendwo beigesetzt. Später hat jemand seine Urne hierher geholt und das Grab angelegt.“ Wer den Dissidenten heimgeholt hat, weiß sie nicht. Ich wiederum weiß nicht, woher Frau Schmidt diese Geschichte hat. Denn als ich nachrecherchiert habe, konnte ich nirgends etwas darüber finden, dass Bahro in Mittelamerika das Zeitliche gesegnet haben soll. Meines Wissens starb er am 5. Dezember 1997 in Berlin an Blutkrebs.
Direkt an den großen Dorotheenstädtischen Friedhof grenzt noch ein kleinerer, der Französische Friedhof. Dort liegt Jenny Gröllmann, die Ex-Ehefrau von Ulrich Mühe, eine Frau, die auch aufgrund von Aussagen Mühes in Verdacht geriet, IM der Staatssicherheit gewesen zu sein, was man nach einem Gerichtsurteil aber nicht mehr behaupten darf. Der Suhrkamp Verlag musste entsprechende Stellen in Veröffentlichungen schwärzen. Frau Schmidt missbilligt es zutiefst, dass sich die beiden Eheleute, obwohl beide schon schwer krebskrank, „einen solchen Scheidungskrieg“ geliefert haben. Und wie das Grab aussieht, missbilligt sie ebenfalls. „Die Kinder sollten sich mal kümmern.“ Aber immerhin, auf dem Grabstein von Jenny Gröllmann liegen kleine Steine. Es gibt also Menschen, die sich an die Schauspielerin erinnern und die sie deshalb niedergelegt haben.
Das Grab der Familie Hoffmann
Es stimmt nicht, dass der Tod alle Menschen gleich macht. Das verschwenderisch ausgestattete Grabmonument der Familie von Friedrich Eduard Hoffmann, dem Erfinder des Ringofens, an dem wir ablesen können, dass vier seiner Kinder einer Scharlachepedemie erlegen sind, liegt fast unmittelbar neben der Gedenkstätte für Widerstandskämpfer: Ein hochaufragendes Kreuz aus Walzstahlprofilen und ein Steinquader erinnern an Männer wie Klaus Bonhoeffer, Hans John, Richard Kuenzer, Carl Adolf Marks, Wilhelm zur Nieden, Friedrich Justus Perels, Rüdiger Schleicher und Hans Ludwig Sierks. Sie waren am missglückten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt und in der Lehrter Straße inhaftiert worden. Und sind in der Nacht vom 22. zum 23. April 1945 von einem Kommando der SS im nahe gelegenen Park umgebracht worden. Erinnert wird darüber hinaus an Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi, die in den Konzentrationslagern Flossenbürg bzw. Sachsenhausen getötet wurden, sowie an Justus Delbrück, der nach Kriegsende in russischer Haft gestorben ist.
Martin Heinrich Klaproth, Chemiker und Entdecker von allerlei Elementen, hat eine einfach Platte an der Mauer, die ihm Herr Schinkel, der große Architekt gestiftet hat. Dessen Grabmahl ist, wie es sich für einen so bekannten Mann gehört, einfach monumental. Bert Brecht dagegen ruht neben seiner Frau Helene Weigel unter fleißigen Lieschen und Bodendeckern und unter einer Art Hinkelstein. Brechts Stein ist jedenfalls höher und spitzer, der von Helene Weigel eher gedrungen und in die Ecke gedrängt. Manchmal, sagt Frau Schmidt, bekommt Bert Brecht noch Briefe. Sie habe schon einige im Brechthaus abgegeben, das gleich nebenan liegt.
Die Fichtes und die Hegels Seite an Seite.
Auch andere bekommen offenbar Briefe. Fichte und Hegel zum Beispiel. Die beiden sind Vertreter des so genannten Deutschen Idealismus und liegen nicht nur neben ihren Frauen, sondern sogar Grabstätte an Grabstätte. Die Fichtes neben den Hebels. Jeder der vier Steine sieht anders aus. Die Inschriften auf den Grabmonumenten von Herrn Fichte und Frau Hegel (die wiederum nebeneinander liegen, wenn auch durch eine Grabstätte getrennt) sind kaum noch zu lesen. Das sind wenigstens noch keine uniformierten Grabsteine denke ich. Es ist wie bei den Häusern. Früher wurde viel aufwändiger gebaut, mit Stuck, Schnörkel und Schnickschnack. Heute sind die Häuser wie die neumodischen Grabsteine. Im Dorotheenstädtischen Friedhof muss ein Steinmetz zugange (gewesen?) sein, der eine ausgesprochene Vorliebe für roten Stein hat. Darauf wurde dann eine weiße Fläche eingeprägt und auf die wiederum in klobigen schwarzen Buchstaben der Name.
Nicht nur auf dem Grab von Jenny Gröllmann liegen kleine Steine. Das ist eine jüdische Sitte. Sie bedeutet, dass noch jemand an den Verstorbenen denkt. An Herbert Marcuse zum Beispiel. Der Philosoph gehört zu jenen, die einen eher unscheinbaren Grabstein haben. Dafür steht ein wunderbares Wort über dem Namen: „Weitermachen“.
Marcuses Stein ist völlig anders als die Grabsäule von Philipine Stüler, geborene von Mieg (24. 8. 1784 bis 20. Dezember 1862). Josephine, Königin von Schweden und Norwegen, hat ihrer Erzieherin „in dankbarer Erinnerung“ kleines Denkmal errichten lassen.
Und dann zeigt mir Frau Schmidt noch ein geheimnisvolles Grab, das sie sehr beschäftigt. Es hat eine Umrandung aus Granitsteinen, eine schmucklose Bodendeckerbegrünung, zumeist aus Rasen, und am Kopfende zwei graue, rechteckige, etwa wadenhohe Steine. Jeder trägt oben ein anderes seltsames Zeichen, dessen Bedeutung Frau Schmidt allzu gerne entschlüsseln würde. Sie hat schon einen Sprachwissenschaftler hergeführt, doch der konnte nicht helfen. Nun hofft sie auf mich. Ich rätsle ebenfalls. Vor etwa sechs Jahren, erzählt Frau Schmidt, hätten die Steine auch an der Front noch eine Inschrift gehabt, Und dann seien sie plötzlich verschwunden gewesen. Als die Quader wiederkehrten, war die Inschrift verschwunden.
Ich bin ganz stolz, dass ich ein Grab kenne, das sie noch nicht gesehen hat und zeige es ihr: zwei etwa mannshohe schwarze Marmorstelen. Ecce Homo steht in Goldprägung am Fuß der linken, sehet, welch ein Mensch. Und auf der rechten Stele non omnis moriar, ich werde nicht gänzlich sterben. Nirgends ein Name oder eine Jahreszahl. Und ich frage mich, soll ich daraus nun auf außerordentliche Bescheidenheit des hier so bemerkenswert Begrabenen schließen - oder auf unglaubliche Arroganz.
Dann lese ich die Inschrift auf der kleinen Tafel unter Ecce Homo: Leben zwischen Weimar, NS Faschismus, totalem Krieg und Stunde Null. Leben und Denken zwischen vier Besatzungszonen, zwei deutschen Teilstaaten und einer Wider-Vereinigung (G. Grass). Leben und Denken zwischen Sozialabbau, Raubtierkapitalismus und neuen weltweiten Bedrohungen. Das Grab ohne Namen gehört zu den größeren. Das muss es wohl auch. Denn nach diesen pathetischen Worten glaube ich fast, hier ist die Menschlichkeit zu Grabe getragen worden.
Ganz hinten in der Ecke, am anderen Ende des Friedhofs, wurde ein Engel begraben. Und in seiner Nähe auch zwei Frauen namens Biedermann. Ein Stück weiter Richtung Eingang wahrscheinlich der Teufel, mit Vornamen Fritz. Am 15. Juli 2010 war die Trauerfeier zum Tod des Erfinders der „Spaßgerilja“, die eigentliche Beisetzung sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Ich habe ein frisches Grab noch ohne Namen gesehen, Blumen darauf. Das könnte des Teufels letzte Ruhestätte sein. Sie liegt nicht weit von Herbert Marcuses Grab entfernt, eine andere Reihe zwar, aber ziemlich schräg gegenüber. Das entspräche dann auch den Positionen der beiden Männer, als sie noch am Leben waren. Und ich frage mich, was sich diese beiden in stillen Nächten, wenn nur noch der Wind durch die Bäume rauscht und die Katzen um die Grabsteine streichen, zu erzählen haben könnten.
Der Dorotheenstädtische Friedhof lag über Jahrzehnte auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Deshalb kennt ihn die alte Dame auch so gut. „Wissen Sie“, meint Frau Schmidt noch, „nach der Wende und der Wiedervereinigung sind hier einige Gräber plötzlich verschwunden. Die Leute passten ihnen wohl nicht. Aber das ist doch auch deutsche Geschichte! Wie der Palast der Republik.“ Dorthin ging Frau Schmidt früher auch gerne. Früher, in ihrer alten Heimat.
Da weiß ich, dass die Begegnung mit Frau Schmidt nicht zufällig war. Sondern dass ich mich erneut auf den Weg in ein Abenteuer aufgemacht habe, das Verstehen und Schreiben heißt. Ich werde mich darauf einlassen. Was auch immer am Ende dieser Reise stehen mag.
Bilder zum Nach-Leben in YouTube
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