Donnerstag, 27. Mai 2010

Eine Reise ins 13. Jahrhundert, dritte Folge



Die Geschichte der Köchin Mathilde und des Minnesängers musste auf ihre Umsetzung warten, weil andere Bücher (zwei historische Romane, zwei Krimis und ein Mystery-Roman) sich in den Vordergrund geschoben haben. Doch jetzt schreibe ich daran. Die „anschaulichen“ Grundlagen gelegt habe ich – übrigens vor fast genau sechs Jahren – bei einer anderen Reise, deren Bilder jetzt wieder lebendig werden: Zusammen mit meinem Mann bin ich im Auto tausende von Kilometern über den Balkan und Istanbul nach Kleinasien und wieder zurück gefahren, verbunden mit einem für diesen historischen Roman entscheidenden Abstecher. Er führte mich von Istanbul aus mit dem Flugzeug nach Tel Aviv und von dort aus weiter nach Akkon, auch Akers, Acre, Accho, Acco, Hacco und St. Jean d'Acre genannt. Ich habe damals ein Reisetagebuch geführt, aufgeschrieben, was mich berührt hat. Vielleicht haben Sie ja Lust, mich zu begleiten.
Leider gibt es nicht mehr zu allen Folgen Fotografien. Sie sind irgendwo in den Tiefen meines PCs verschwunden. Das gilt auch für diesen Reiseabschnitt.


Mathildes Geschichte, Folge 3: Die zerschossene Stadt, geschrieben 29. April 2004

Per Zufall entdecke ich das Schild: Europahaus Dubrovnik. Ich marschiere durch die nächstgelegene Türe und lande in einem Zimmer vollgestopft mit Elektronikteilen. „Next door“, erklären mir vier ziemlich gut aussehende junge Männer noch immer freundlich, obwohl ich sie mit meiner ersten Frage offenbar beleidigt habe: „In Kroatien spricht fast jeder Englisch“, behauptet der eine pikiert.

„Next door“ ist aber geschlossen, ist sowieso nur morgens offen, immer etwa eine Stunde. Das erfahre ich später. Ich will mich enttäuscht abwenden, da blicke ich direkt in die grünbraunen Augen von Patricia. Dass sie so heißt, 13 Jahre alt war, als Dubrovnik beschossen wurde, das erfahre ich ebenfalls erst später. Ungefähr 100 Fragen später. „Kann ich helfen?“, fragt sie mich mit einem ermutigenden Lächeln und stellt den Besen beiseite. Sie ist gerade dabei, ein kleines Büro gegenüber auszufegen. Helle, marmorierte Steinfliesen, ein etwas abgenutztes Sofa, zwei Stühle, ein kleiner Schreibtisch, ein PC, der allerdings noch keinen Internetzugang hat. Das Büro ist gerade neu eingerichtet worden und die Anlaufstelle einer Selbsthilfegruppe für Multiple-Sklerose-Kranke. Patricia ist die neue Sekretärin, wenn sie sich bewährt, wird sie vielleicht für Geld eingestellt. Auch das erzählt sie mir erst, nachdem wir uns besser kennen.

„Ich habe eine Frage, genauer, mehrere“, beginne ich zögernd, etwas vorsichtig geworden nach meiner Erfahrung mit den jungen Männern.

„Ja? Aber kommen sie doch herein.“ Sie zeigt auf einen Holzstuhl, der vor dem Schreibtisch steht. „Es kommt sowieso niemand. Ich habe Zeit bis 14 Uhr.“ Patricia lacht.

Ich merke bald, dass sie gerne lacht. Sie schaut mich offen und erwartungsvoll an.

„Was halten Sie von einem Eintritt Kroatiens in die Europäische Union?“ , platze ich heraus.

Patrizia lacht erneut. „Nichts“, erklärt sie dann bestimmt. „Kroatien ist zu klein“, ergänzt sie. Dann müsse das Land tun, was die größeren Staaten ihm sagen. Das gefällt ihr nicht „und ich glaube, die Mehrheit der Kroaten denkt auch so. Es gibt bei uns einen Witz: Wir in Kroatien drehen einem Huhn, wenn wir es essen wollen, einfach den Hals um. So.“ Patricia untermalt ihre Geschichte sehr lautmalerisch mit einem „Krrrk“ und plastisch mit der entprechenden Handbewegung. „Und wenn wir dann in die EU kommen, dann dürfen wir unseren Hühnern nicht mehr einfach so den Hals umdrehen.“ Das kann ich nachvollziehen. In der EU gibt es viele Regeln.

Wir lachen beide schallend. Und was hält sie vom Eintritt Kroatiens in die Nato? „Nichts“, meint sie erneut. Ihr Grund: „Sie wollen auf der wunderschönen Insel Vils ein Militärlager einrichten. Dort ist die Natur besonders schön.“ Sie schüttelt missbilligend den Kopf.

Patricia war noch ein Kind, „mitten in der Pubertät“, als der Krieg 1991 im Oktober nach Dubrovnik kam. Die Raketen von den Schiffen vor der Küste sprengten Krater in die Pflastersteine und Löcher in die Häuser. Vom Himmel aus Flugzeugen fielen die Bomben, auf den Hügeln standen die Geschütze. „Wissen Sie, was sie gesagt haben, als sie kamen?“

„Wer sie?“

„Die Montenegriner und die Bosnier. Wir haben nicht geglaubt, dass sie nach Dubrovnik kommen würden. Auch nicht nach dem Fall von Vukovar. Dubrovnik ist alt, gehört zum Weltkulturerbe. Davor würden sie Respekt haben, dachten wir. Wissen sie, was sie gesagt haben?“, wiederholt sie und die gerade ebennoch lachenden, grünbranen Augen werden hart.

Ich schaue sie fragend an. „Sie haben gesagt, wir werden dafür sorgen, dass es noch älter aussieht. Jetzt ist die Stadt wieder schön. Doch damals, da waren Krater in den Straßen, so groß, dass Sie hier nicht hätten laufen können.“

Später, beim Gang durch die Stadt, schaue ich genauer hin. Und entdecke die sorgsam kaschierten Einschusslöcher in den Steinen, die ich am Abend zuvor nicht gesehen hatte.

Patricia, ihre jüngere Schwester und ihre Eltern sind am 1. Oktober aus ihrem Haus vor den Toren der Stadt geflohen. Sie lebten in einem zerstörten Hotel in Dubrovnik („ein Liter Wasser für vier Personen aus einer Zisterne“). „Ich hatte eine Tasche dabei und bin zwei Jahre nicht mehr in mein Zuhause zurückgekehrt.“ In Dubrovnik habe es damals etwa 200 Opfer gegeben. Nicht viel im Vergleich zu Vukovar.

„Wissen Sie“, sagt sie noch, „jetzt sind wir sicher. Und jetzt ist es vielleicht sogar besser als vor dem Krieg. Die Stadt ist wieder hergerichtet. Und wir haben gelernt, jeden Stein zu lieben und zu respektieren.“ Jetzt lacht Patricia wieder.

„Die Stadt breitet ihre Schwingen aus“, schwärmt der Stadtführer, den ich mir gekauft habe, selbst in der deutschen Übersetzung noch poetisch. Als ich durch Dubrovnik und über die Stadtmauer gehe, kommt mir die Stadt so zeitlos vor wie das Meer, an dem sie liegt. In Dubrovnik sind außerdem die Katzen kleiner als anderswo und die Männer außergewöhnlich zuvorkommend. Dazu hin flirten sie gerne. Und die Tauben sind frecher als anderswo, so fett geworden, dass sie nur äußerst unwillig zur Seite tippeln, wenn ein Mensch kommt. Die Tauben breiten ihre Schwingen kaum noch aus.

Und den Telefonhörer, den ich als akustischen Führer für die Burgbesichtigung in die Hand gedrückt bekam, habe ich bald im Verdacht, dass er keine Zahlen lesen kann. Egal, wie fest ich auch auf den Knopf mit der Nummer drücke, er scheint nie etwas zur Nummer der jeweiligen Rundgang-Station zu sagen, sondern immer etwas zu einer anderen. Ich mache ihn nach Nummer fünf aus. Und genieße den Blick auf diese außergewöhnliche Stadt. Eine große alte Dame. Ich gebe dem Meer meine besten Wünsche für sie mit.

Keine Kommentare:

Impressum

Herausgeber und inhaltlich Verantwortliche
gemäß § 6 MDStV: Petra Gabriel, Gabriel-Publishing

Lehrter Straße 18-19
10559 Berlin

Im Leimenacker 12
75725 Laufenburg

web: www.petra-gabriel.de
mail: info(at)petra-gabriel.de